Frühmorgens im Museum

Kennen Sie den Wunsch, einmal ganz allein in einer Buchhandlung, einem Süßwarenladen oder in einem Museum Zeit zu verbringen? Allein, ohne andere Kunden und Besucher? Dass aus so einem Wunsch Wirklichkeit wird, hatten sich die Senior:innen im KATHARINENHOF AN DER MÜHLENAU nicht träumen lassen – bis er wahr wurde.

Eine kleine Gruppe Bewohner:innen der Senioreneinrichtung ist heute Morgen zu Gast im Bucerius Kunst Forum am Alten Wall in Hamburg. Dort heißt Kunstpäda­gogin ­Sabine Rizello ihre Gäste herzlich willkommen. Eine ­Stunde lang gehört ihnen nun das Museum, niemand sonst ist hier, keine anderen Menschen, keine störenden Geräusche, Gespräche und Meinungen – nur Sabine ­Rizzello und die Senioren:innen.

Die Besucher:innen aus dem KATHARINENHOF sind zwischen 80 und 90 Jahre alt. Ihr Kurzzeitgedächtnis ist durch demenzielle Erkrankungen eingeschränkt und sie haben infolgedessen viele persönliche und soziale Fähigkeiten verloren. Doch die Kunstpädagogin weiß nicht nur ­unsagbar viel über Kunst. Sie stellt Nähe her, spricht auf Augenhöhe und mit kurzen, klaren Sätzen. Sie hat ­keinerlei Berührungsängste und weiß, wie sie die ­Spannung und das Interesse ihrer besonderen Gäste hält.

„Vor dem Ausstellungsbesuch stimmen wir uns ab, ­welche Räume und Bilder besichtigt werden, denn das Licht, die ­Erkennbarkeit der Kunstwerke und ihre ­Aussagekraft ­spielen eine große Rolle“, weiß Christina Wolf, ­Einrichtungsleiterin im KATHARINENHOF AN DER MÜHLENAU.

An Sitzgelegenheiten für die Senior:innen wird ebenso gedacht, wie an Requisiten, die am Anfang jeder Führung das Thema spielerisch einleiten. Einmal gab es Tabakpfeifen, passend zum Pechstein-Bild. Zur Sammlung von Karl Schmidt-Rottluff waren es Masken und zur Gabriele ­Münter Ausstellung hat Sabine Rizello heute einen verzierten Damenhut und einen Strohhut für Herren mit. Der Ausstellungsraum ist in einem ­tiefen Tintenblau gehalten. Blau hat eine ­beruhigende und ent­spannende Wirkung und ist der ideale Kontrast zu den ­expressiven Porträtdarstellungen der Künstlerin Gabriele ­Münter. Ein Werk zeigt ‚Marianne von ­Werefkin‘, das Bildnis ­einer Frau mit großem Hut, der bunt ausstaffiert ist. Es wird heute im Mittelpunkt des Besuchs stehen.

Die Gruppe kommt über das Gemälde ins Gespräch. ­Darüber, wie die Farben wirken, zu welchen Anlässen man früher Hüte trug, für wen sich die Dame auf dem Bild wohl schön gemacht hat, wen sie gerade anschaut oder was sie in dem Augenblick denken mag. Die ­Antworten und Erinnerungen der Senior:innen sind bunt und ­lebendig, wie das Bild selbst.

„Der angeregte Austausch und die intensive ­Betrachtung des Gemäldes zeigen, wie Kunst im Alter und bei einer ­Demenz-Erkrankung wirkt – selbst bei Menschen, die ­zuvor mit Kunst keinerlei Berührung hatten“, sagt ­Sabine Rizello. Jede:r Mensch betrachtet die Welt mit den ­eigenen Augen und sieht sie daher anders. Dabei sind Farben wie eine Muttersprache. Sie wirken auf uns, lösen Emotionen und Stimmungen aus. Sie regen an oder beruhigen. So hat jede Farbe eine andere Wirkung.

Die Führung durch die Ausstellung weckt große Neugier und das intensive Auseinandersetzen mit einem einzelnen Gemälde eine enorme Entdeckerfreude. Im angepassten Tempo ist der Museumsbesuch außergewöhnlich intensiv, emotional und persönlich. Niemand stört die Ruhe, es gibt keine Ablenkung, dafür eine hohe Aufmerksamkeit. „Das Staunen, Schauen, Erleben und das Spüren machen die Ausstellungsbesuche so einzigartig – ganz gleich, in welcher kognitiven Verfassung die Besucher:innen sind“, ist Beata Golombek immer wieder begeistert. Sie ist ­Betreuungskraft im KATHARINENNHOF und begleitet die Gruppe.

Ist die Stunde im Museum vorüber, werden die ­Senioren:innen selbst kreativ. Dabei wird das Thema der Ausstellung aufgegriffen und vertieft. Dafür ­liegen im ­Atelier allerlei Materialien bereit: Papier, Farbe, ­Tupfenpinsel und das Besondere: Eine Schablone für das Bildnis der Frau mit dem Hut. Die Kontur wird mit dem ­Pinsel aufgetragen und der Umriss deutlich. Die Gäste ­füllen nun nach Belieben die entstandene Silhouette mit Farbe aus. „Dabei geht es nicht um Perfektion, sondern um das Gefühl, den Flow und das Ausdrücken ohne ­Worte“, beschreibt Sabine Rizello den Effekt.

Das Gestalten mit Farben bringt die Senioren in ein ­seelisches und körperliches Gleichgewicht. Sie gehen in ihrer Beschäftigung auf, kommen ins Fühlen und ­Erinnern und sind ganz gegenwärtig. Es stehen nicht mehr die ­Verluste der Fähigkeiten im Vordergrund, sondern das ­aktive und kreative Tun – völlig wertfrei.

Nach diesem Besuch im Museum fragt Christina Wolf die Teilnehmenden, wer beim nächsten Mal wieder mit ­dabei ist. Allen hat es gut gefallen. Eine der Bewohnerinnen ­beschreibt sogar lebhaft, wie sehr sie sich interessiert und ein Bewohner antwortet, wie schön es gewesen sei und bezieht schwungvoll seine Arme mit ein. Und die positiven Reaktionen zeigen, was Kunst bewirken kann.