Hier ein Kiosk, da eine Kiezkneipe, dort ein Gourmetrestaurant. Auf der einen Seite Dreck, auf der anderen ein üppig blühendes Blumenmeer. Am Straßenrand eine verbeulte Karre, daneben eine Nobelkarosse. Berlin hat viele Gesichter. Gut und schlecht, arm und reich – hier liegen Gegensätze nah beieinander. Genau diese Vielfalt macht die Millionenmetropole so anziehend. Doch was einerseits fasziniert, wird andererseits ausgegrenzt und tabuisiert. Mit solchen Gegensätzen hat Sebastian Kühn täglich zu tun. Er ist Leiter des KATHARINENHOF CITY WEST. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. Die Einrichtung ist zentral gelegen im Herzen von Charlottenburg, einer schicken Wohngegend von Berlin. Mit begrünter Dachterrasse und einer schnörkellosen Fassade wirkt das Haus wie ein modernes Hotel, „und manchmal fragen Touristen sogar nach einem Zimmer“, erzählt der 39-jährige Sebastian Kühn. Was man von außen nicht ahnt: Dieses Haus ist ein Zuhause für Menschen mit besonderen Geschichten und Bedürfnissen.
Anders als in Pflegeeinrichtungen, wo zumeist hochbetagte Menschen leben, wohnt hier eine deutlich jüngere Klientel. Die meisten sind zwischen 40 und 50 Jahren alt, haben viele psychiatrische Aufenthalte in Fachkliniken hinter sich „und sind nicht mehr fähig, in der sozialisierten Gemeinschaft zu leben“, erklärt Sebastian Kühn. Genau dieser Faktor, dass hier chronisch psychisch erkrankte Menschen wohnen, macht diese Pflegeeinrichtung zu etwas Besonderem. „Zu einem Haus, das Menschen, die in unserer Gesellschaft keine Lobby haben, eine Heimat gibt. Wir sind ihre letzte Chance.“
Die Bewohner, zumeist Männer, haben bereits Straftaten abgesessen und finden aufgrund ihrer Krankheit nicht mehr zurück ins freie soziale Leben, nicht mehr zurück in die Arbeitswelt. Herr Kühn beschreibt: „Die verschiedenen Krankheitsbilder machen es unmöglich, allein in einer Wohnung oder Wohngemeinschaft zu leben, allein klarzukommen. Sie brauchen Hilfe und vor allem Regeln.“ Wer sich nicht an die Hausregeln hält, verliert hier schnell seine Chance auf einen Wohnsitz. Dann drohen manchen die Straße, die Obdachlosigkeit, der Strich oder Drogen. „Ein Milieu, in das sie jederzeit zurückkönnen. Und bestimmt hat so mancher noch Kontakt zu seinem alten Umfeld. Und trotzdem: Wir sind keine geschlossene Anstalt. Jeder unserer Bewohner kann kommen und gehen.“
Wie lässt sich ein solches Haus führen? Das wollten wir vom Einrichtungsleiter Sebastian Kühn wissen. „Mit einer guten Balance aus Vertrauen und Empathie. Einer großen Portion Ruhe und Gelassenheit und der Kompetenz, im richtigen Moment zu lenken. Man muss deutlich mehr Stress und Belastung als sonst in der Pflege üblich aushalten. Doch das Wichtigste sind Grenzen und klare Regeln.“ Für den richtigen Umgang mit psychisch Kranken werden die Mitarbeiter im CITY WEST besonders geschult, erhalten Basiskurse in Psychiatrie, bekommen Deeskalations-Trainings, um Konflikte zu entschärfen, und die Teams kommen monatlich zur Supervision zusammen. „Dabei werden wir von einem Psychologen und Supervisor begleitet, der den entsprechenden Hintergrund hat und unser Haus seit vielen Jahren kennt.“ Wer hier arbeitet–und hier wohnt –, weiß, dass chronisch-psychische Erkrankungen nicht heilbar sind. „Aber wir können versuchen, den jeweiligen Zustand zu erhalten, um eine Verschlechterung der Erkrankung aufzuhalten und schließlich das Leben der Menschen lebenswerter zu machen“, so Herr Kühn. Er selbst ist examinierter Altenpfleger und hat viele Weiterbildungen absolviert, bis er schließlich die Leitung von CITY WEST übernahm. Mit seiner Vorgängerin ist es ihm Schritt für Schritt gelungen, die Einrichtung auf psychisch Erkrankte zu spezialisieren. Längst ist daraus ein Kompetenzzentrum geworden, das einen hohen Zulauf hat, von großen Fachkliniken empfohlen wird und mit dem Maßregelvollzug zusammenarbeitet. „Der Bedarf ist hoch“, so Herr Kühn. „Psychisch kranke Menschen leben meist am Rand unserer Gesellschaft. Sie werden ausgegrenzt, haben keine Zukunft und erfahren keine breite öffentliche Akzeptanz.
“ Herr Kühn beschreibt, dass 95 Prozent der Sozialeinrichtungen nicht über ausreichende Fähigkeiten und Ressourcen verfügen und deshalb Menschen mit diesem Hintergrund abweisen müssen. Für die sogenannten ganz schweren Fälle gibt es geschlossene Einrichtungen. CITY WEST liegt als Kompetenzzentrum irgendwo dazwischen. „Der Bedarf an stationären Einrichtungen ist riesig und der Kostendruck enorm“, beklagt Sebastian Kühn die Situation. „In der Öffentlichkeit wird zwar immer offener über seelische Leiden gesprochen, gleichzeitig unterliegen psychische Erkrankungen aber vielfältigen Stigmatisierungen.“ Betroffene und Angehörige resignieren oft und geraten in einen Teufelskreis aus Scham und Isolation. Deshalb macht sich Sebastian Kühn in seinem Kiez stark, klärt die umliegenden Geschäfte und die Nachbarschaft auf, informiert und sensibilisiert für mehr Verständnis. „Wir müssen die Krankheiten und damit die Erkrankten ernst nehmen. Nur wenn wir darüber reden, verbreitet sich das Wissen. Dann können wir falschen Vorstellungen entgegenwirken, Berührungsängste abbauen und psychische Erkrankungen aus der Tabuzone holen.“ Dazu braucht es einen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung. KATHARINENHOF CITY WEST ist als Leuchtturmprojekt wegweisend und bietet chronisch psychisch Erkrankten besonderen Schutz.